Wir wählen uns alle nur selbst

Der Schriftsteller, Philosoph und Publizist Richard David Precht
Ein Kommentar des Schriftstellers, Philosophen und Publizisten Richard David Precht.
Warum wir den Wahlkampf und die Parteien haben, die wir verdienen.
Gefunden beim ddp (bei Sebastian Willnow).

Das Label unserer Zeit ist die negative Identität, die inszenierte Nichtzugehörigkeit als Individualitätsnachweis. Wir sind keine Staatsbürger mehr, sondern Investmentbanker unserer selbst. Wer sich selbst treu sein will, verpflichtet sich lieber zu nichts mehr. Wenn es schiefgeht, zieht er sein Kapital an Aufmerksamkeit, Arbeitskraft und Vertrauen ab. Die paradoxe Gleichung unserer radikalisierten Individualität ist unverkennbar. Wenn Individualität bedeutet, sich selbst treu zu bleiben, und Identität, seinen Werten treu zu bleiben, so gilt: je mehr Individualität, umso weniger Identität.

Berlin. Regierungsviertel. Im August 2009. Auf der Wiese vor dem Reichstag spielen Migrantenkinder Fußball, Journalisten lümmeln sich auf Liegestühlen im Sand, am Spreebogen dösende Rucksacktouristen im Schatten des Kanzleramtes, neugierige Passanten inspizieren den Garten des Schlosses Bellevue. Eine Allegorie der Ruhe und des Friedens; das Idealbild einer blühenden Zeit, in die Gegenwart gefallen aus der italienischen Frührenaissance. Ein Fresko, heiter und beschwingt, wie jenes von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Pubblico in Siena: Folgen einer guten Herrschaft.

Ein Jahr nach dem Ausbruch der Finanzkrise gehört Deutschland immer noch zu den reichsten Ländern der Welt und trotz des Krieges in Afghanistan noch immer zu den friedlichsten. Die Banken verdienen wieder Geld. Die Armutsquote ist gestiegen, gewiss, aber alles ist relativ. Mit dem Geld eines deutschen Hartz-IV-Empfängers fühlte sich ein Bauer in Bangladesch noch immer als Krösus. Deutsche Markenprodukte sind weltweit gefragt, die Kriminalitätsrate ist niedrig, der Korruptionsindex sieht uns bei den Harmlosen. Alles, so scheint es, ist gut im Staate Deutschland.

In zwei Wochen ist Wahl. Nach einer Umfrage des sterns meinen gerade 36 Prozent der deutschen Bevölkerung, unsere Demokratie funktioniere »im Großen und Ganzen gut«. Ein Drittel meint gar: »Wir leben gar nicht wirklich in einer Demokratie, in der das Volk zu bestimmen hat.« Kritischer waren diese Werte in der Geschichte unseres Landes vermutlich nie. Und das angesichts einer politischen Klasse, die sich – mehr als jede Generation zuvor – Tag für Tag vor den Kameras unendlich viel Mühe gibt, von den Wählern nicht nur respektiert, sondern auch gemocht zu werden.

So sehr gemocht, dass man sich am liebsten auf nichts mehr festlegt. Kein »Freiheit statt Sozialismus« mehr von den Christdemokraten, die die gerade größte Subventionswelle seit Willy Brandt hinter sich haben. Und kein Spott gegenüber einer SPD, der den Sozialismus wirklich niemand zutraut. Sozialdemokraten sind nur noch »gut für Deutschland«. Den Grünen geht es wie allen »ums Ganze«, und die Stärke der FDP ist »die Mitte«, weil die Mitte des Ganzen eben gut für Deutschland ist. »Zeit für Zukunft« fällt der FDP auch noch ein. Bewirbt sie einen Freizeitpark, ein Astrologie-Zentrum oder eine Rentenversicherung?

Plakate ohne Inhalt; ein Land ohne Eigenschaften. Daran ändert auch das schlechte Schauspiel nichts, das nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und im Saarland in den Fernsehstudios der Nation inszeniert wird. Kein Kommunist übernimmt im Herbst 2009 die Macht in Deutschland, und kein Neoliberalist schafft den Sozialstaat ab. Was den Parteien in letzter Hektik vor der Wahl zu ihren politischen Kontrahenten einfällt, ist keine Komödie und keine Tragödie, sondern aggressiver Klamauk. Eine lumpige Farce, bei der der Wähler ohnehin längst weiß: Unsere Parteien sind schon lange weit weniger Marke als etwa Gucci oder Nutella. Was draufsteht, ist gar nicht drin. Keine große Steuersenkung bei den Liberalen, keine vier Millionen neue Arbeitsplätze bei der SPD, kein ökologischer Umbau der Industriegesellschaft bei den Grünen und natürlich auch keine grundlegende Umverteilung bei der Linkspartei. Kein Ort nirgends für eine parteipolitisch gebundene Weltanschauung. Warum also sollte man Angela Merkel vorwerfen, dass sie auf ihren Wahlplakaten zwar »die Kraft«, aber keine politische Linie hat? Die Wähler, und nicht nur ihre, haben ja auch keine. Und dass sie sich auch nach den jüngsten Landtagswahlen dagegen verwahrt, Theater zu spielen – wer will ihr diesen Anstand verwehren?

Der Souverän, das Volk, sucht ohnehin nicht nach Weltanschauungen, sondern maximal nach einer verlässlichen Rating-Agentur für die Sicherheit von Lebensperspektiven. Parteien spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle, so sehr sie sich für diese Rolle auch anbieten und anbiedern. Doch wen der Staat dazu ermuntert, ihm seine Alterssicherung nicht mehr zuzutrauen, wer seine Leiden keiner »gesetzlichen« Krankenkasse mehr überlässt und wer seine Kinder, wenn er kann, auf Privatschulen und Elite-Unis schickt, der traut dem Staat auch sonst nicht mehr über den Weg. Nur die sozial Schwachen vertrauen auf den Staat – weil sie müssen.

Die Privatisierung von Lebenssicherheiten wird noch immer unterschätzt. Ihr Resultat ist der maulende Wähler, politikverdrossen und unzufrieden, angestachelt von der bösen Illusion, den Staat kaum noch zu brauchen. Bei Umfragen gibt er zu Protokoll, dass er nicht mehr an die Demokratie glaubt, an den Parteien lässt er kein gutes Haar, und den Politikern wirft er vor, was er sich selbst als Position erarbeitet hat: dass sie nur noch an sich denken. Statt staatsbürgerlicher Ethik verpflichtet zu sein, begreift er sich mehr und mehr als moralische Briefkastenfirma mit einem festen Wohnsitz im Irgendwo.

Die mangelnde Solidarität ist die Folge unseres Wirtschaftens, die Folge einer guten Herrschaft. Dies auszusprechen scheint ebenso zwingend wie tabu. Wenn jeder anders als die anderen sein will, gibt es kein Wir mehr. »Wir« – das sind immer die anderen. Markt- und Markenwirtschaft erzeugen kein Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern moralische Zeitarbeiter ohne Milieubindung. Identität wählen zu können bedeutet, keine mehr zu haben und keine zu erlangen. Die Konsumindustrie lebt davon, dass ihre Produkte pausenlos veralten. Nach kurzer Zeit ist alles alt und ersetzungsbedürftig. Kein Wunder, dass eine Bedarfsweckungsgesellschaft sich hinter keiner Parole mehr versammelt. Der Geiz, der gestern geil war, ist morgen doof.

Das Label unserer Zeit ist die negative Identität, die inszenierte Nichtzugehörigkeit als Individualitätsnachweis. Wir sind keine Staatsbürger mehr, sondern Investmentbanker unserer selbst. Wer sich selbst treu sein will, verpflichtet sich lieber zu nichts mehr. Wenn es schiefgeht, zieht er sein Kapital an Aufmerksamkeit, Arbeitskraft und Vertrauen ab. Die paradoxe Gleichung unserer radikalisierten Individualität ist unverkennbar. Wenn Individualität bedeutet, sich selbst treu zu bleiben, und Identität, seinen Werten treu zu bleiben, so gilt: je mehr Individualität, umso weniger Identität.

Von hier aus auch erscheint das verantwortungslose Handeln von Bankern in der Finanzkrise nicht als Auswuchs oder Krebsgeschwür der Gesellschaft. Vielmehr ist sie ihr Symptom. Wie viele Menschen in Deutschland, in den USA oder anderswo hätten genauso gierig und kurzsichtig gehandelt wie die maßlosen Ritter vom Gold? Nur dass sie nicht über deren Mittel verfügen. Wer bei der Steuererklärung dem Staat jeden Cent abtrotzt, den besten Handytarif abzockt, zum Tanken über die Grenze fährt und überall sonst nach Schnäppchen giert – der spürt (vielleicht) eine Restscham, den Großmeistern der Maßlosigkeit ihre Mentalität vorzuwerfen. Ideologiekritisch gewendet: Dem kurzen Aufschrei über die Abfindungsmilliarden der Banker wohnt noch die stille Bewunderung inne, die die Folgenlosigkeit sicherstellt.

Aus diesem Grund, so scheint es, ist die Empörung über die Finanzwelt alles in allem so unfassbar verhalten, so privat und so wenig organisiert. Wie sollte den Bankern unrecht sein, was so vielen anderen recht ist? Und genau deshalb, die Vermutung liegt nahe, profitiert Die Linke in der Wählergunst auch fast nicht von den Maxima Amoralia des Börsencrashs.

Das Verhältnis von Sozialnormen zu Marktnormen ist aus dem Ruder gelaufen. Nicht nur in Deutschland, sondern nahezu überall in den Staaten des Westens. Von den Asozialgemeinschaften vieler Schwellenländer gar nicht zu reden. Auch dies die Folgen guter Herrschaft. Man kann dieses Fresko nicht grell genug zeichnen und unterbietet doch die Realität. Der psychische Ausverkauf der Seelenreservate an die Unerbittlichkeit des Marktes ist weiter fortgeschritten, als wir wahrhaben wollen. Nicht nur die Unterwäsche, auch jene unseres Bewusstseins ist mit Markennamen bestickt. Die Psychen nicht nur unserer Kinder sind ein Parcours von Jingles und Werbespots. Das Habenwollen ist wichtiger als das Seinwollen und wird auch von allen Parteien akzeptiert. Wo sie früher Sprachrohre sein wollten für eine bestimmte Klientel, gibt es heute nur noch »Volksparteien«, also Discounter. Ein Sortiment für alle unter einem Dach. Kein Wunder, dass jeder Klientelvorteil der Parteien als Vorteil für jeden verkauft wird.

Das Wort »verkauft« fällt nicht ohne Grund. Aus Bürgern sind User geworden und aus Wählern Kunden. Der Anteil des Staates daran ist unübersehbar. Er findet sich sichtbar in den Fehlattributionen der Schröder-Zeit. Die Bundesanstalt für Arbeit tat jahrzehntelang ihren Dienst, bis sie eine »Agentur für Arbeit« werden musste, um unseren kapitalistischen Seelen besser Rechnung zu tragen. Selbst die Arbeitslosen als Nichtteilnehmer des Arbeitsmarktes sollten sich in dem Gefühl sonnen dürfen, im marktwirtschaftlichen Spiel mitzumischen, wenn auch auf Kosten eines Schwindels: Eine Agentur kostet Geld, sie verlangt Provision. Der Bund dagegen tut dies bekanntlich nicht. Er ist keine Agentur, und er unterhält auch keine. Clownesker noch die Erfindung der »Ich-AG«. Was nach Markt und Börse klang, sollte gut klingen. Was kümmerte es die Sachwalter des Scheins, dass der auf sich selbst gestellte Handlanger mit einer Aktiengesellschaft etwa so viel zu tun hatte wie eine Vorstadtspielothek mit dem Paradies.

Die Tendenz, jeden Lebensbereich in der Sprache des Marktes zu beschreiben, ist ungebrochen. Evolutionsbiologen erklären das Tierreich nach den Regeln des Risikokapitals. Weibchen »investieren« in Männchen, getrieben vom Streben nach dem genetischen Maximum. Auch wenn solche Sprache mehr über die Gedankenwelt von Biologen verrät als über das tatsächliche Verhalten der Tiere – der Glaube an Ertragsoptimierung, Profitgier und Rücksichtslosigkeit gilt längst als das arttypische Verhalten des Menschen schlechthin.

Wir wählen uns alle nur selbst

Dass der Mensch seinem Wesen nach ein Kapitalist sei, ist der Glaube unserer Zeit. Niemand hört, wie Adam Smith, der Gründungsvater der Nationalökonomie, heftig gegen den Sarg klopft. Für ihn war der Mensch gut, auf Anerkennung angewiesen und von Wohlwollen erfüllt. Das Gewinnstreben war nicht die Natur des Menschen, sondern nur ein praktisches Gefühl zweiter Ordnung. Heute dagegen höhlt der Glaube an die kapitalistische Verfassung unserer Seele die Gesellschaft aus. Jenseits der Freund-Feind-Linie von links und rechts vergiftet er die Heimatbiotope der Konservativen ebenso, wie er die abstrakten Solidaritäten der Linken bloßstellt.

Sind solche amoralisierten Bürger regierbar? Gibt es eine Politik für Menschen, die die Abwrackprämie volkswirtschaftlich für falsch halten, sie aber trotzdem kassieren? Für Wähler, die von der Politik eine Ehrlichkeit fordern, die sie im Zweifelsfall selbst nicht haben? Für Kunden, die tagtäglich hören, dass sie ihren Vorteil nutzen sollen und nach Vorzugsprämien gieren? Wer fragt einmal umgekehrt, wie viel Spaß es unseren Politikern eigentlich macht, die Gunst von Premiumkunden zu gewinnen, denen man nicht auch noch versprechen kann, »Premiumwähler« zu sein? »Mit der Wahl dieser Partei erhalten Sie einen Vorzugstarif bei der Steuer, eine Pay-back-Card für ihre Stimme und ein First-Class-Handy von Ihrem Exklusiv-Abgeordneten…«

Die Wählerwanderungen bei den Landtagswahlen sind bezeichnend. CDU-Wähler wechselten zur FDP wie zu den Linken, und NPD-Wähler wechselten zu den Liberalen. Dabei ging bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen nur jeder zweite Wahlberechtigte überhaupt an die Urne, in Sachsen war es kaum besser. Die 56 Prozent Wahlbeteiligung in Thüringen gelten sogar noch als überraschend hoch. Knapp ein Drittel der Bevölkerung erklärt gegenüber Infratest dimap, man wisse noch immer nicht, wen man am 27. September wählen solle. Und bei der Wahlbeteiligung erwarten die Demoskopen ein Rekordtief.

Verwunderlich ist das nicht. Wer tagtäglich indoktriniert wird, sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, genießt eine staatsbürgerliche Erziehung von zweifelhaftem Zuschnitt. Ein Milliardenaufwand an Werbegeldern bombardiert die wackeligen Behausungen unserer Werte: die Moral der Kindheit, ein kleiner, meist winziger Rest Religion und ein bisschen Demokratieverständnis aus der Schulzeit. Ein ungleicher Kampf. Niemand fragt heute mehr, ob sein Premiumtarif gegenüber anderen fair ist. Das sogenannte Individualprinzip als elementarer Kern der Marktwirtschaft muss mit einem durchdachten Sozial- und Humanitätsprinzip in Balance gehalten werden, predigte einst Ludwig Erhards Lehrmeister Wilhelm Röpke. Der Focus setzte dies schon zur vorletzten Bundestagswahl außer Kraft: Wen würde Ihr Geld wählen? lautete der Titel. Wählen allein nach monetären Interessen – auffälliger lässt sich die Aufkündigung der Solidarität nicht plakatieren.

Die Folgen einer guten Herrschaft ist ein Verlust der Tugend. Doch so leicht er sich diagnostizieren lässt – unser ganzes Wirtschaftssystem beruht darauf, Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen, von Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen. Beschränkte sich ein jeder auf das, was er tatsächlich braucht, so bräche dagegen alles zusammen. Dieses Paradox ist das Stigma unserer Zeit. Der erstickende Lack über den bewegten Farben. Der Fluch der guten Herrschaft.

Zwanzig Jahre nach Vollendung des Freskos im Palazzo Pubblico brach in Siena die Pest aus. Lorenzetti selbst erlebte sie nicht mehr, er starb unmittelbar nach getaner Arbeit. Die Unentrinnbarkeit des Endes aber findet sich gleichwohl eingezeichnet in das Idyll seiner guten Herrschaft: in der Abbildung einer Sanduhr.

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